Landkarte

Der Nord­osten Indiens

Der wenig besuchte Nordosten Indiens ist eine kulturell unglaublich reiche Region mit vielen Minderheiten­völkern. Bereits das zentralen Tief­land rund um den Brahma­putra ist ethnisch sehr viel­fältig und beherbergt verschiedene sino–tibetisch sprechenden Völker ver­schie­dener Zweige (und sogar einige wenige mit Tai-Sprachen), aller­dings besteht die über­wältigende Mehrheit der Bevölkerung aus Indern, zumeist Assamesen, aber auch Bengalen (teilweise Flüchtlinge aus Bangladesh, die sich nach 1947 oder anläßlich anderer Konflikte hier angesiedelt haben). In den Gebirgsregionen besteht die alteingesessene Bevölkerung dagegen praktisch nur aus Minderheiten, obwohl stellenweise zugezogene Inder einen erheblichen Bevölkerungsdruck ausüben.

Die Minderheiten­völker sind unterschiedlich stark indisiert; manche (Manipuri, Bodo) haben sogar den Hinduismus angenommen und vermischen ihn kräftig mit vorhinduistischen Elementen. Viele sind Christen (Khasi, Naga, Mizo) oder Vajrayana-Buddhisten (tibetische Splittergruppen); im Südosten leben auch einige wenige Gruppen mit Theravada-Bekenntnis (Chakma). Vor allem die christlichen Minderheiten glänzen mit hohem Bildungs­niveau, perfekten Englisch-Kenntnissen und weltoffener Freundlichkeit, die das Reisen zu einem ganz exotisch angenehmen Erlebnis macht.

In Bangladesh bilden die Chittagong Hill Tracts die logische Südost-Fortsetzung von Indiens Nordosten. Einige Ethnien wie die Borok, Chakma und Mizo sind seit 1947 zwischen den bedien Staaten aufgeteilt. Die christlichen Ethnien haben ihren Schwerpunkt in Indien, die buddhistischen in Bangladesh.

Die nördliche Grenze Nordostindiens wird vom Osthimalaya gebildet; dort leben außer tibetischen Ethnien auch einige andere Gruppen, deren Sprachen ebenfalls in die sino–tibetischen Familie fallen; sie sind wegen der Unzugänglichkeit des Gebietes sehr schlecht erforscht (Tani-Gruppe). Im Osten, entlang des Grenzgebietes zu Burma, gehört die Mehrheit der Sprachen dem Kuki–Chin-Zweig des Sino–Tibetischen an, aber auch andere Gruppen wie Bodo–Garo, Lolo–Burmesisch und (ganz marginal) Mru sind vertreten. Im südlichen Gebirge, an der Grenze zu Bangladesh, werden außer sino–tibetischen Sprachen auch noch solche der austro–asiatischen Familie gesprochen. In Assam gibt es außerdem noch ganz kleine Minderheiten mit Thai-Sprachen.

Insgesamt kennt der Nordosten ca. 160 verschiedene Sprachen, das entspricht mehr als einem Drittel der gesamten linguistischen Vielfalt Indiens (der Bevölkerungsanteil aller Nordostprovinzen liegt bei 3%).

Die vier letztgenannten Bundesstaaten waren viele Jahrzehnte lang für Ausländer nur sehr erschwert zugänglich. Das hat sich 2011 überraschenderweise für drei davon geändert, und ich nutze die Gelegenheit, fazinierende und exotisch Orte ohne Tourismus zu besuchen; lediglich Arunachal Pradesh verlangt von Ausländern auch heute noch ein schwer zu bekommendes Restricted Area Permit.

Reisetips für den Nordosten Indiens

Smurf graffito painting on a wall in Aizawl, Mizoram (North-Eastern India)

In den Städten des Nordostens kann man viel Unindisches sehen

Meiner Meinung nach ist Nordost-Indien das unter­schätzte Reise­gebiet des Sub­kontinents. Diese Region bietet ver­gleichs­weise un­zerstörte Natur, ethni­sche Viel­falt auf engstem Raum, freund­liche und ge­bildete Menschen und dazu noch einen ge­pflegten Schuß Feminis­mus. All das findet man natürlich auch anders­wo, aber kaum in dieser Häufung und dann auch noch ganz ohne Tourismus.

Das Schlimmste an Nordost­indien ist seine Lage; wer nicht gerade in Kolkata startet, hat ein bis zwei Tage Zugfahrt vor sich, ehe er in Guwahati ankommt, und auch von dort ist man per Bus noch zwölf bis vier­undzwanzig Stunden an den Ostrand des Gebietes unter­wegs. Die Busse sind im indi­schen Vergleich sehr gut, fahren aber nur wenige Zentren an; von den Haupt­städten und wenigen Verkehrs­knotenpunkten geht es dann oft nur mit dem Jeep weiter, und deren Anzahl ist beschränkt (und die Abfahrts­zeiten sind meist hirn­verbrannt). Nacht­fahrten per Jeep sind generell nicht möglich.

Die Sicherheits­lage ist in den für Touristen geöffneten Staaten relativ unproblematisch. Militante Gruppen gibt es zwar überall, aber die vermeiden (insbesondere in den christlichen Gegenden) Touristen so gut sie können; meist machen sie sich nur durch sinnfreie Streik-Aktionen bemerkbar. Im ländlichen Nagaland gibt es wirklich noch einige bewaffnete und kampfwillige Sezessionisten, und auch in Assam, Tripura und selbst Meghalaya (nur im Westen) treten solche gelegentlich in Erscheinung, aber man hat nirgendwo das Gefühl, in einem Bürgerkriegsland zu reisen (ja, ich habe den Vergleich).

Die große Ausnahme dazu ist Manipur; in Imphal hält das Militär mühsam die Ordnung aufrecht, das heißt in der Praxis, es macht sich durch Vergewaltigungen, Erschießungen und willkürliche Verhaftungen mit jedem Tag unbeliebter. Die Bevölkerung ist frustriert, trinkt zuviel und reagiert sich in Form sinnloser Gewalt an Zufallsopfern ab (ich wurde einmal verprügelt). Im Rest des Landes soll es noch viel schlimmer sein. Interessant ist es natürlich trotzdem, und man kann einen Besuch ohne weiteres auch überleben.

Tourismus-Infra­struktur existiert nirgendwo, abgesehen von einigen hot spots wie Shillong, und Übernachtungen sind generell teurer als anderswo. Die Preise für Transport schwanken stark (in den Garo Hills waren sie abartig hoch, in Mizoram dagegen lächerlich niedrig). Mit Ausländer­preisen wird man so gut wie niemals konfrontiert, und Betrugs­versuche seitens der Einheimischen kommen höchstens in Assam vor. Besonders die Minderheiten­völker sind unfaßbar freundlich und helfen orientierungs­losen Ausländern in einem Ausmaß, wie man es sonst nirgendwo in Indien erlebt.

Reisen im Nordosten bedeutet im wesentlichen Ethno-Tourismus; die Völker und ihre Lebensart sind selbst die Sehenswürdigkeiten. Historische Monumente, Paläste und Tempel kommen vor, aber sie sind die Ausnahme. Dazu kommen noch einige Nationalparks und die dank der geringen Bevölkerungsdichte sehr gut erhaltene Natur. Da man sich in sechs der sieben Staaten völlig frei bewegen kann, erscheint mir auch Trekking nicht unmöglich, allerdings nur für Selbstversorger.

Ein großer Vorteil des Nordostens ist der hohe Bildungsstand. Besonders in den christlichen Gebieten wird Englisch weithin verstanden (Nagaland ist in dieser Hinsicht extrem). Die im Rest Indens fast immer gültige Gleichung „Adivasi = rückständig = erfolglos“ wird im Nordosten oft in ihr Gegenteil verkehrt, und oft haben gerade in den Minderheiten­völkern viele junge Leute eine gute Ausbildung. Das trifft auch auf Frauen zu, die hier mit einem geradezu westlich anmutenden Selbstbewußsein all das tun, was ihren Schwestern in Indien beständig verwehrt wird.


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